Donnerstag, 20. Februar 2014

Warum Christine und ich keine Freunde sind





Kolumne


Warum Christine und ich keine Freunde sind


Um es gleich vorweg zu nehmen, es geht hier nicht um Zickenkrieg, sondern um eine ganz persönliche Abrechnung mit Frauenzeitschriften.
Da ich niemandem zu nahe treten möchte, der ein Fan bestimmter Frauenzeitschriften ist, nehme ich mir die Freiheit, die Zeitschrift, zu der ich ein „besonderes Verhältnis“ habe, als „Christine“ zu bezeichnen. (Der Name ist also von der Redaktion geändert.)

Von Stars und Sternchen zur Welt der Mode


Als ich Christine kennenlernte, war ich gerade dem Bravo-Alter entwachsen (selten gekauft, aber regelmäßig mitgelesen). Ich muss so etwa 14 gewesen sein.
Christine zeigte damals tolle Mode, fantastisch präsentiert und hinreißend gestylt.
Es war Mitte und zweite Hälfte der 60er Jahre. F. C. Gundlach fotografierte für Christine. Seine Modefotografie war bahnbrechend und fand später Eingang in Bildbände, Ausstellungen und Museen. Später frisierte die junge Marlies Möller für Christine, manchmal war es auch Udo Walz. Und Christine zeigte nicht nur Mode, Christine machte Mode – Christine war Mode!

Christine war Mode


Als Hot Pants aufkamen, war Christine die erste Zeitschrift, in der eine Strickanleitung für diese Shorts zu finden war. Schon zwei oder drei Wochen nach der Veröffentlichung erschien eine Klassenkameradin mit hinreißenden gestrickten Hot pants samt passendem Rollkragenpullover und Gürtel auf Hüfthöhe. Toll! Der modeinteressierte Teil unserer Klasse war neidisch – auch, weil besagte Mitschülerin eine Oma hatte, die ihr dieses Outfit in Perfektion erstellt hatte. Meine Sitznachbarin bekam in kürzester Zeit von Mutter und Tante nach Christines Strickmuster einen Glockenrock mit passendem Wickelpulli in der Farbe apricot gestrickt. Ebenfalls ein Outfit mit hohem Neidfaktor. (Wie ich später erfuhr, trug sie dieses Outfit im Wechsel mit ihrer Cousine;-))
Nach Christines Anleitung häkelte ich mir ein großes, schwarzes Dreiecktuch mit langen Fransen, das zu Midi- oder Maxirock in Tweed oder Fischgrätmuster sowie schwarzem Schlapphut getragen wurde. F. C. Gundlach hatte die Vorlage vor einer Wand aus Stangeneis abgelichtet. Auf dem Foto sah es aus, als befinde sich das Model im ewigen Eis.

Die Krönung der Hochphase der Strick- und Häkelwelle waren farbenprächtige ausgestellte Kleider, die aus bunt gemusterten kleinen Quadraten und Dreiecken zusammengesetzt waren. Meine beste Freundin hatte sich solch ein Kleid in wochenlanger Arbeit erstellt. Wie von der Christine-Redaktion berichtet wurde, gingen noch Jahre später Fotos von Frauen ein, die sich diesen Kleidertraum nach und nach erfüllt hatten.

Eine Zeitlang war jeder Christine-Ausgabe ein Schnittmusterbogen mit genau einem Modell beigefügt. Z. B. erschien das Schnittmuster für einem halbdiagonal zu verarbeitenden 4-Bahnen-Rock. Er saß fantastisch – ganz ohne Abnäher - und war die Basis für meine Kollektion an Midiröcken.
Einmal gab es einen Schnitt für ein kleines Kostümchen, einen Glockenrock zum Wickeloberteil mit Schößchen, wahlweise mit Langarm oder Puffärmel. Mehrere Mitschülerinnen trugen dieses Kostümchen zu den Abiturprüfungen. Ich hatte es mir in dunkelblau mit langem Arm genäht und in hellblau-weiß mit kurzem Arm. Man war darin perfekt angezogen und konnte sich bewundernder Blicke sicher sein.

Christine gibt Ratschläge


Neben dem umfangreichen Modeteil gab es in Christine natürlich auch noch Kosmetik, Psycho-Tests, Kochrezepte ... und Ratschläge.
Ratschläge – ja, Christine erklärte ihren Leserinnen, was ging und was nicht.
Eine kleine, stets hinter dem großen Modeteil erscheinende Rubrik hieß „Das waren doch nicht etwa Sie?!“
Klein, nur mit schwarz-weiß Fotos, aber stets mit erhobenem Zeigefinger, wurde Problembewusstsein geweckt.
Da zeigte ein Foto z. B. eine mit Hosen bekleidete Frau, bei der sich an der Kehrseite der Rand der Unterhose auf den Bäckchen deutlich abdrückte. Oder der BH kniff ein und zeichnete sich hinten unter Pulli oder Bluse ab oder ein viel zu kleiner BH zeigte vorn vier statt zwei Zapfstellen ...
Eine Haarfarbe, die heute als ombré bezeichnet wird, die war völlig indiskutabel! Eine ausgewachsene Blondierung im rückenlangem Haar konnte sich nur das Hippie-Mädchen Michelle Phillips von den Mamas and Papas erlauben.
Erschiene diese Rubrik heute noch, dann wahrscheinlich unter der Neusprech-Überschrift: „Das geht ja gaaanich!“.

Christine weckt Problembewusstsein


Ja, Christine war ganz groß darin, Probleme aufzuzeigen und Problembewusstsein zu wecken. Mischhaut oder gar fettiges Haar? - große Probleme, die es zu bekämpfen galt. Gelbstich in blondem Haar? Großes Problem! Weg damit – am besten bekämpfen mit Silberfestiger. Schlupflider? Riesenproblem ...

Der Verlust meiner Vollkommenheit


Bis ich anfing, regelmäßig Christine zu lesen, war ich ein vollkommenes Geschöpf. Gesund, alle Gliedmaßen vorhanden und gerade, Zähne lückenlos, volle Seh- und Hörfähigkeit, keine Akne, nur gelegentlich ein paar Pickelchen, glänzende blonde Haare, ein gescheites Köpfchen, mit 165 cm nicht zu klein und nicht zu groß, sondern genau richtig und mit einem Gewicht von ca. 60 kg schlank aber nicht mager. So sah ich mich, so sah mich meine Familie – aber Christine sah mich ganz anders ...

Apfelschnitze vom Baum der Erkenntnis


Christine verteilte Apfelschnitze vom Baum der Erkenntnis, regelmäßig, in jeder Ausgabe.
So lernte ich, dass ich mit meiner Größe viel zu klein wäre. Zu klein? Zumindest zu klein für den Beruf des Fotomodells. Ich selbst fühlte mich nie zu klein – und Fotomodell?, das war für mich kein Berufsziel.
Anders sah es mit meiner Mischhaut aus. Hier ließ ich mir tatsächlich ein Problem einreden und folgte den Empfehlungen des Kosmetikressorts, kaufte vom Taschengeld Gesichtswasser und mattierende Creme (und sonstige Unnützlichkeiten).
Dann meine Haare ... oh je, im Sommer bekamen sie doch tatsächlich (oder vermeintlich?) einen Gelbstich. Also musste Silberfestiger her, der die Haare scheckig und drahtig und klebrig (und schuppig?) machte. (Seit ich diese Phase der Versuche und vor allem Fehlversuche beendet habe, lasse ich keinen Festiger mehr an mein Haar, auch nicht beim Frisör.)

Dann mein Gewicht ... Der BMI war damals noch nicht bekannt. 
Es galt die Regel: 
Körpergröße in cm – 100 in kg = Normalgewicht; Normalgewicht – 15% = Idealgewicht.
Ich lag gerade mal um ca. 5% unter Normalgewicht. 15% weniger – da hätte ich 55 kg wiegen müssen!
Und dann hatte ich auch noch Schlupflider ...
So lernte ich allmählich, unzufrieden mit mir zu sein.

Nebenbei bemerkt: Schlupflider verloren ihren Status als „Problemlider“ erst, als Claudia Schiffer auf den Titelblättern erschien! War es übrigens nicht Christine, die sich rühmte, Claudia Schiffer entdeckt zu haben?

Christine hat die Lösung


Für viele (Pseudo-)Probleme hatte Christine eine Lösung parat. Die Dauerwelle z. B. war ein Mittel bei zweierlei Problemen: dünnes Haar wird aufgeplustert und gewinnt an Volumen und Standfestigkeit (!!!), fettiges Haar wird angeraut und dadurch saugfähiger (!!!). Ebenso „hilft“ Haarefärben bei fettigem Haar, weil es ebenfalls die Oberfläche anraut und saugfähiger macht.
Zu dick? Kein Problem! Man musste nur Christines Kochrezepte sammeln oder in Buchform kaufen und schon konnte man sein Gewicht selbst bestimmen. Regelmäßig machte eine Runde von rundlichen bis dicken Frauen mit Christine Diät und ließ sich „vorher“ und „nachher“ fotografieren. „Nachher“ steckten dann schon mal zwei Damen in einem Rock, der früher von nur einer Probandin ausgefüllt wurde. Natürlich versicherte jede Dame, dass es kein Problem sei, mit 1000 Kalorien monatelang über den Tag zu kommen. Schwieriger war es da schon, die winzigsten Mengen abzuwiegen, die in den Rezepten standen. Um 5 g Halbfettmargarine für ein Frühstücksknäckebrot abzuwiegen, schaffte ich mir extra eine Briefwaage an. Natürlich wurde das Knäckebrot dann noch ganz großzügig mit einer mittelgroßen Tomate belegt, und wer wollte, konnte noch ein Teelöffelchen Schnittlauch darüber streuen, das nicht einmal in die 1000 Kalorien-Bilanz eingerechnet wurde.
Christine brachte ihre Leserinnen auch immer auf den neuesten Stand der Forschung – zumindest ernährungswissenschaftlich. So wurde die frohe Kunde verbreitet, dass fünf kleine Mahlzeiten viel besser seien als 3 große, weil dadurch weniger Hunger aufkäme.
(Merkwürdig, ich glaube mich zu erinnern, dass diese Parole etwa um die gleiche Zeit aufkam in der auch Joghurt und Fruchtjoghurt die Regale der Läden eroberte. Zufall?
Jedenfalls packten danach die Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen in den Büros vormittags („morgens halb zehn in Deutschland“) ihren Joghurt aus und murmelten beim Löffeln die Beschwörungsformel „5 kleine Mahlzeiten sind besser als 3 große“.)
Wenn dann die Figur wieder rank und schlank war, konnte man sie mit Christines Hilfe ganz einfach erhalten, nämlich mit Christines Gymnastikprogramm. Dafür gab es in einem Heft eine Fotostrecke mit Übungen. Und wer das Gymnastikprogramm regelmäßig betreiben wollte, konnte sich das Leben vereinfachen und eine Langspielplatte kaufen. Unterlegt mit Musik des Orchesters Max Greger zählte eine Redakteurin vor: beu---gen, beu---gen, beu---gen, ...

Christine verliert ihre Magie


Irgendwann waren Fachzeitschriften mir wichtiger als Frauenzeitschriften. Nur noch gelegentlich kaufte ich mir welche, z. B. vor längeren Flügen, um sie dann nur mit wenig Interesse schnell durchzublättern. Was mir in den 80er Jahren allerdings bei Christine auffiel, die in der Heftesammlung doch noch dabei war, war, dass die Art der Fotostrecken sich deutlich verändert hatte. Während die Modefotos in meiner Anfangszeit noch die Qualität hatten, in Bildbänden verewigt zu werden, waren die Fotos jetzt von eher fragwürdiger Qualität. Oft kauerten die flippig gewandeten Models von schäbig fleckigen Wänden wie in Abbruchhäusern. Mein Gedanke dabei war dann „was soll das???“.

Das Ende kam abrupt


Mittlerweile gab es Christine auch für die erwachsene Frau. Das schaute ich mir an. Nun ja, Endvierzigerinnen, die den Rocker in sich entdeckten oder Mittfünfzigerinnen, die von Jeans mit schwarzem Pulli nun auf beige und Kurzhaarschnitt wechselten, Berichte darüber, dass Liebeskummer im fortgeschrittenen Alter mindestens so schmerzhaft sei wie in jungen Jahren und eine Kolumnistin, die sich darüber beklagte, dass sie der neuen Kommunikationstechnik kaum noch folgen könne. Wen interessierte das? Mich nicht!

Ich hatte wieder einmal einen sehr langen Arbeitstag hinter mir. Im Businesskostüm eilte ich durch den Bahnhof, kaufte am Kiosk noch schnell eine Christine und eilte weiter zum Bahnsteig. Ich stieg in den Zug und – ratsch – am neuen Kostüm war beim Einsteigen der Gehschlitz um etwa 3 cm aufgerissen. Das passierte mir immer. Ich hasste Kostüme mit Bleistiftröcken und ich weigerte mich, mir beim Einstieg in Bahn oder Bus den Rock bis zur Schenkelmitte hochzuziehen. Verärgert setzte ich mich und begann in Christine zu blättern. Eigentlich hätte sich jetzt ein Wunsch erfüllen und das Heft hätte einige elegante Alternativen zum verhassten Businesskostüm aufzeigen sollen. Stattdessen: bunter Gipsy-Look mit Netzstrümpfen und Klimperketten, das Model in der Hocke kauernd vor einer schäbigen Wand ... mir reichte es. Das hatte rein garnichts mit meiner Lebenssituation zu tun. Verärgert klappte ich das Heft zu und ließ es beim Aussteigen liegen.
Schluss, Ende – nie wieder Christine.

Einige Zeit später entdeckte ich für mich kragenlose, farbige Bouclé-Jacken mit schwarzem Bahnenrock und Seidenbluse – meine Alternative zum androgynen Businesskostüm.

Hier einige Teile, die ich mir nach Christine-Schnitten genäht hatte: